Seit einiger Zeit habe ich Frieden mit dem Essen. Ich esse, worauf ich Lust habe, ohne Verbote, ohne Gedanken, dass ich abnehmen muss. Mein Körper sagt mir, wann er Hunger hat und ich essen soll, auch was und wie viel; manchmal ist es mehr, manchmal weniger. Falle ich in alte Muster und esse zwei Stück Kuchen, obwohl ich nach dem ersten genug gehabt hätte? Logisch. Nach jahrzehntelanger Diktatur und Vorschriften braucht es Zeit, mich ans intuitive Essen zu gewöhnen, achtsam und bewusst auf meinen Körper und meine Bedürfnisse zu hören, und zu geniessen. Esszwang habe ich selten, und das ist ein Wunder bei meiner Geschichte. Und falls ich mich doch zu einem Fressanfall entscheiden sollte (was ok ist), werde ich ihn bewusst geniessen. Letzte Woche war ich bei meiner Freundin im schönen Basel-Land. Auf meiner Heimfahrt nach Zürich, musste ich weder am Basler, noch am Züricher Bahnhof Süssigkeiten kaufen, es erstaunte mich selbst. Ich staune oft über mich selbst in letzter Zeit.
Und nun verändert sich langsam mein Körper. Ich würde mich so gerne wiegen! Aber wozu?
Ich kann jetzt meine Schuhe binden, ohne dass ich den Knopf und Reisverschluss meiner einzigen Hose ohne Stretch offen lassen muss ;-); ein schönes Gefühl. Am liebsten würde ich sofort auf die Waage stehen. Meine Waage mit eingebauter Fettmessung habe ich vor einiger Zeit online verkauft, zusammen mit dem verstaubten Crosstrainer, der ein Viertel des Wohnzimmers einnahm und mich jedes mal anklagend anzustarren schien, wenn ich auf der Couch lümmelte, vielleicht sogar mit Binge. Ein schuldfreies Entspannen war fast nicht möglich. Beide Geräte schienen mich regelmässig daran zu ermahnen, dass ich fett war und etwas dagegen tun sollte.
Wenn ich heute meinen Partner besuche, bitte ich ihn, seine Waage (welche meine Körperfettmessung mit "TILT" anzeigt) zu verstecken, denn ich könnte nicht widerstehen, drauf zustehen.
Ich möchte wissen: Nehme ich ab? (Diese Antwort gibt mir ja schon die Stretch-lose-Hose.) Nehme ich denn auch schnell genug ab? Wie viele Kilos habe ich schon verloren? Denn wenn ich das weiss, kann ich ausrechnen, wie viel ich bis zum Sommer abnehmen könnte. Und wenn ich dann vielleicht noch das eine oder andere an meinem Essverhalten ändere, könnte ich ja noch schneller abnehmen, denn in diesem Tempo...bei diesem Ausgangsgewicht...das dauerte ja JAHRE! Gar nicht auszudenken, was in meinem Kopf abginge, wenn ich heute 200 Gramm schwerer wäre als gestern! "Oh Gott, was habe ich gestern falsch gemacht? Wovon habe ich zuviel gegessen? ..." und schon wäre ich wieder mitten in der Diät-Mentalität angelangt. UND DIÄTEN MACHEN DICK!
In meinem Leben geht es nicht länger um mein Gewicht.
Die Waage bestimmt nicht länger meinen Gemütszustand. Mein Körpergewicht bestimmt nicht länger meinen Wert. Die Einzige, die heute bestimmt, wie ich mich fühle, bin ich. Nicht meine Waage. Und dass ich wertvoll bin, weil ICH BIN, weiss ich heute auch...meistens.
Der Kampf mit dem Essen, den Kilos, ab- und wieder zunehmen, war schon lange zu meinem Lebensinhalt geworden. Das Essen, oder nicht-Essen, beherrschte die Mehrzahl meiner Gedanken. Die neuesten Diät-Erkenntnisse und wie ich es denn jetzt endlich schaffen konnte abzunehmen, waren die Gesprächsinhalte mit wer auch immer mir gerade gegenüber sass. Ich konnte über nichts anderes mehr reden. Das Drama meines Lebens verschaffte mir bei meinen Mitmenschen auch Aufmerksamkeit, keine Frage. Auf die Waage stand ich täglich, manchmal sogar mehrere Male. Aber wozu? Dass ich zuviel wog (in wessen Augen?) lag auf der Hand.
Diesen Kampf, das Drama und das Gewicht aufzugeben, macht Angst.
Worüber rede ich jetzt mit meinen Mitmenschen? Ich habe sonst nichts Interessantes zu sagen! Wenn ich los lasse, was mein Lebensinhalt war für so lange, was tue ich mit dieser Leere, die dann da ist? Wie fülle ich die? Ist das nicht diese innere Leere, die sich mit zwanghaftem Essen so gut stopfen liess? Vor der ich so lange weggelaufen bin?
Und das Übergewicht, das Fett, meinen Körper, den ich so lange bekämpft habe...waren nicht sie immer schuld an meinen Misserfolgen, unerwiderter Liebe, Einsamkeit, Launen etc.? Wenn ich schlank wäre, wem könnte ich dann die Schuld geben?
Und wenn ich schlank wäre, wie würde ich mich vor den Blicken und Avancen fremder Männer schützen? Wie könnte ich sie freundlich aber bestimmt zurückweisen? Was, wenn das nicht genügte?
Das Gewicht erfüllt immer einen Zweck.
Es loszulassen, macht Angst. Veränderung macht Angst. Aber ich kann mit der Angst sein, sie fühlen, in sie hineinatmen. Ich muss deswegen nicht essen. Es ist ok. Gefühle können mich nicht umbringen. Und wenn wirklich etwas passieren sollte, habe ich ein Netz von Freunden, Berater und Therapeuten, die mich auffangen. So ein soziales Netz scheint mir sehr wichtig; Es ist beruhigend. Ich bin sicher und aufgehoben.
Webe auch dir ein Netz, du musst es nicht alleine schaffen! Du bist nicht allein. Schreibe mir!
Somit wünsche ich uns eine gute Woche, Wohlgefühl in unseren Körpern, Genuss beim Essen, ohne Verbote und vor allem: ohne Waage.
Liebe dich selbst, denn es ist egal, was du wiegst!